Wie ein bunter Strauß Gefühle

Wenn ich heute an die Encounter-Gruppe zurückdenke, überkommen mich gemischte Gefühle. Wie eine Tüte Bonbons, mit verschiedenen Papierchen eingewickelt, in zartem Cellophan, bunt durcheinander gewürfelt, einladend, mache salzig, andere süß schmeckend. Wie gut erinnere ich mich an die anfängliche Mulmigkeit – Angst wäre doch übertrieben – beim Betreten des Raumes, in dem schon so viele Menschen saßen und sich angeregt unterhielten. Kein vertrautes Gesicht zunächst …. aaahhhh, doch: die Ausbilder kenne ich, und beim genaueren Hinsehen und dann beim Hinsetzen entdecke ich rechts und links Freundlichkeit, Lächeln, Ermutigung. Dabei habe ich mit Gruppen viel Erfahrung, bin eigentlich nicht scheu oder schüchtern – oder vielleicht doch etwas? Die Zeit in diesem Raum – das spüre ich – wird spannend werden, eine neue Erfahrung, aber ich kann noch nicht sagen, ob eine gute oder eine schlechte.

Da gibt es Menschen, die scheinbar sehr offen sind, sich zeigen, über sich reden, die gar nicht viel Anlauf brauchen. Das Thema ist die Person an sich, man selbst sozusagen, gerade jetzt, im Moment, mit allem, was sie im Moment ausmacht, was in ihr vorgeht an Gedanken, Empfindungen, Gefühlen, Erinnerungen … Ich bemerke, dass ich hin und wieder etwas staune über die Dinge, die mitgeteilt werden … mir würde es gar nicht einfallen, so etwas von mir mitzuteilen. Mir wird bewusst, dass ich mich überhaupt nicht so wichtig nehmen würde, als dass ich annähme, es würde irgendjemand in diesem Raum interessieren, was ich denke und fühle. Einfach unvorstellbar! Ich höre aufmerksam zu und bemerke, dass es mich doch nicht wirklich berührt, keine innere Bewegung, wie ich es von mir kenne: dass mich ein Ruck durchfährt, sich meine Muskeln anspannen und sich mein Herz meldet. Doch was war das gerade? Eine Teilnehmerin sagte gerade etwas Persönliches von sich, auf das eine Erwiderung folgte, von der ich das Gefühl hatte, dass sie nicht den Kern der Aussage erfasst hat, und ich bemerke, dass ich wach bin, leicht nervös, und dass meine Muskeln sich anspannen. Ich spüre Mitgefühl für die Teilnehmerin; wie mag es ihr wohl jetzt gehen? Erinnerungen schieben sich vor mein inneres Auge, wie es mir ging in unzähligen Situationen: in meiner Familie zu Hause, in der ich mich nie verstanden fühlte, in der Schule, wo viele mich als zu kompliziert und anstrengend empfunden haben, viele Beziehungen mit Männern, die ab einem gewissen Punkt „abgeschaltet“ haben, weil sie keine Lust hatten, so genau hinzusehen und hinzuhören, wie ich es umgekehrt getan habe bei ihnen und dies – schwerer Fehler – auch von ihnen in Hinsicht auf mich erwartet hätte. Und dann die Erfahrungen in der Klinik, in der ich 10 Jahre gearbeitet habe, in der ich den Ruf hatte, zu gefühlvoll und sensibel zu sein und alles immer noch komplizierter zu machen… ich habe es nie leicht gehabt und es mir auch nie leicht gemacht. Mein Entschluss, klientenzentrierte Psychotherapeutin zu werden, beruhte von jeher auf erfahrenem Leid mit dem Übergehen von Gefühlen, mit dem Abgespeist-Werden, ohne genau hingehört zu haben, und dem tiefen Schmerz darüber, so alleingelassen zu werden (nicht umsonst zählt „Verlassenheit und Selbstentfremdung“ von Kathrin Asper zu meinen Lieblingsbüchern). Als ich mich zu dieser therapeutischen Ausbildung entschloss, war ich beseelt von dem Gedanken, andere Menschen in ihrem So-Sein, ihren Gefühlen zu sehen und zu hören; niemand sollte so alleingelassen werden, wie es mir widerfahren war.

Es sollte noch einige Zeit dauern, bis ich spürte, dass ich etwas sagen wollte, ja, sogar sagen musste. Es war ein bisschen so, wie vom Drei-Meter-Brett zu springen. Das letzte Mal tat ich dies vor drei Jahren (und davor vor über dreißig Jahren), weil meine Tochter dies wünschte und ich sie nicht enttäuschen wollte. Aber wie schwer fiel mir das! Mutig kletterte ich nach oben, schaute dann vorsichtig hinunter und ging, immer zögerlicher werdend, nach vorn. Und da traf mich der Schock: das große Blaue, tief, tief unter mir, unendlich und weit, zum Sich-Verlieren. Ich fing an zu zittern, kehrte um, um dann doch – von quälenden Gefühlen und Gedanken gepeinigt – mich wieder umzudrehen. Ich trat an den Rand des Sprungbretts. Und da stand ich; Ewigkeiten. Ich forderte mich immer wieder auf, doch zu springen, andere machen es auch und landen auch heil unten. Es war furchtbar. Einmal setzte ich an, um dann doch innerlich wie äußerlich einzuknicken. Aber der Gedanke, wie es sein würde, wenn ich unverrichteter Dinge wieder unten ankommen würde, ließ mich oben bleiben und noch etwas ausharren. Wie es dann genau passierte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich in höchster Angst war … und irgendwie sprang. Der Flug dauerte ewig und war unglaublich fürchterlich, furchtbar, schrecklich. Als ich unten ins Wasser eintauchte, hörte ich meine Tochter Beifall klatschen. Ich glaube, sie wird nie nachvollziehen können, welche Überwindung es mich gekostet hat, mich in dieses blaue unendliche große verschlingende Nichts fallen zu lassen. Danach stand für mich fest, dass ich nie wieder vom Drei-Meter-Brett springen würde.

Und nun saß ich hier, unter all den Menschen, und wollte etwas sagen. Ich musste mir auch hier einen Ruck geben und springen, aber ich sprang nicht in ein großes verschlingendes Blau, sondern erfuhr, dass Menschen mir zuhörten, ohne mich „in die Pfanne hauen“ zu wollen; einige mit lieben, freundlichen, Anteil nehmenden Gesichtern.

Ich sagte im Lauf der Tage noch mehrmals etwas, erzählte sogar richtig was von mir, und es kam eine Resonanz zurück, von der ich nie geglaubt hätte, dass es sie geben würde. Gegen Ende verlor ich fast, fast meine Angst, und es begann, sich vertraut anzufühlen in diesem Raum. Vor allem – und das ist für mich das Wichtigste – begann ich selbst, etwas von mir mitteilen zu wollen, etwas, dass ich für wesentlich und deshalb in Ordnung fand. Ich habe wirklich gemerkt, dass es ein riesiger, luftballongroßer Unterschied ist, ob ich wirklich von innen heraus etwas sagen möchte und meine Worte selbst in irgendeiner Form für wertvoll halte. Und es fühlt sich unverschämt gut an, unglaublich frei, gelöst, entspannt und wohltuend.

Ich habe ein neues Gefühl für mich und meinen Körper (Du weißt schon, Ariane, danke!) und meine Empfindungen und Gefühle bekommen.

Ich denke gern zurück an die vielen lieben Kommentare und wertvollen Begegnungen (Claudia, Sabine, Sascha, Jolanta, Katharina, Karin, Martina, Sonja, Elisabeth, Dunja, Norbert, Petra, Sylvia, danke an alle!), und es kommt vor, dass ich manchmal, wenn ich gerade mit irgendetwas beschäftigt bin, aus dem scheinbaren Nichts heraus eine Erinnerung habe an diese Tage, die mich innerlich erstaunen lässt – immer noch, wie so etwas möglich ist: seine Angst zu verlieren und stattdessen so etwas wie Wohlgefühl und Vertrauen zu entwickeln.

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